WÜRGEENGEL-DER TAGESSPIEGEL

Die Apathie der Bourgeoisie

15.02.2012 00:00 Uhr
Von Christina Kaindl-Hönig

Drama der Dekadenz.

Martin Wuttke inszeniert am Wiener Burgtheater eine „Übermalung“ von Luis Buñuels „Würgeengel“ mit einer Vielzahl von Erzählmitteln aus Musik-, Sprechtheater und Filmbildern – und kann doch nicht über das Fehlen sinnlicher Ausdrucksformen hinwegtäuschen.

In der gescheiterten Entgrenzung wird dem dressierten Menschen die erhoffte Orgie zum Gefängnis seiner selbst. Den fahlen Geschmack der Einsamkeit auf der Zunge, verharrt er gebannt vor seinem eigenen Spiegelbild: Der Tod lümmelt bereits nebenan auf der Chaiselongue. Zwischen Damen in langen Abendroben mit Hündchen an der Leine, Dienstmädchen und Herren im Smoking ist es der Hausherr selbst, der sich die Pistole an die Schläfe setzt, um der ermüdenden Agonie einer mondänen Upperclass-Gesellschaft von heute ein Ende zu bereiten: Ignaz Kirchners Edmundo Nóbile drückt ab. Ein Mal, zwei Mal klackt es hohl in die Stille – „Das Zündhütchen fehlt.

Warte Schatz, ich helfe dir!“, eilt ihm Catrin Striebecks Lucia zu Hilfe, bis sich der tödliche Schuss löst. Und mit ihm befreites Lachen aus dem Publikum.

„Nach der Oper. Würgeengel“, betitelt Martin Wuttke seine „masochistische Komödie“, die er im Kasino des Burgtheaters zur Uraufführung bringt. Es ist seine zweite Regiearbeit nach einer George-Tabori-Inszenierung 2007 am Berliner Ensemble. Der Theater- und Kinoschauspieler (u.a. in Filmen von Quentin Tarantino, Wim Wenders und Margarethe von Trotta) gehört gleichermaßen zum Ensemble der Burg wie des BE, das er 1996 nach Heiner Müllers Tod für ein knappes Jahr als Intendant auch leitete.

Als „Übermalung“ inszeniert Wuttke Luis Buñuels Meisterwerk „Der Würgeengel“ von 1962: eine filmische Vivisektion, in der Herrschaftsmechanismen einer Bourgeoisie in ihren Seelenzwängen und ihrer Gewaltbereitschaft als surrealer Albtraum sichtbar werden. Nach einem Souper, das einem Opernbesuch folgte, gerät eine Partygesellschaft in den Ausnahmezustand eines künstlichen Gefangenenlagers, unfähig den Salon des Gastgebers zu verlassen. Es fehlt bald an Nahrung und Medikamenten. Wahn und Panik breiten sich aus. Ehe der Bann aufgehoben werden kann, begeht ein junges Paar Selbstmord.

Dieser Liebestod macht Wuttke in Form des 3. Aktes von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ zum leitmotivischen Zentrum seiner musiktheatralischen Collage, indem er die Personage der Buñuel’schen Filmvorlage aus 18 Burg-Schauspielern mit vier Sängern samt Kammerensemble verquickt: Der hochdramatische Zwiegesang von Tristan (Martin Mairinger) und Isolde (Hege Gustava Tjønn) sowie die verzweifelte Klage der Namenlosen (Agnes Palmisano) aus Arnold Schönbergs expressionistischem Fiebertraum „Erwartung“ begleiten die Filmdialoge, vermischt – à la René Pollesch – mit diskursiven Textfragmenten von Jean-Luc Nancy, Maurice Blanchot oder Motiven aus Buñuels Autobiografie „Mein letzter Seufzer“.

Vor dem Hintergrund der klassizistischen Kasino-Architektur, flankiert von zwei Riesenparavents mit futuristischer Landschaft (Bühne & Kostüme: Nina von Mechow) und überstrahlt von vorgefertigten Schwarz-Weiß-Filmprojektionen der Partygesellschaft in Großaufnahmen platziert Wuttke eine apathisch-statische Gesellschaft um eine Tafel mit Kerzenlicht und auf mondänen Sofas. Sie folgt den Ausführungen des Dienstmädchens Camilla (Bibiana Zeller) über den „unterbrochenen Mythos“ ebenso regungslos wie der melancholischen Lebensbeichte des Arztes (Oliver Masucci) oder dem hysterischen Ausbruch von Andrea Clausens Leonora: Im weißen Abendkleid wälzt sie sich in einer Saucenlake, leckt diese vom Boden auf, ehe sie sich dem Arzt hysterisch an den Hals wirft. Die Furze des magenkranken Cristiáno (Dirk Nocker) markieren das Ende einer gesättigten Gesellschaft: „Wir alle gehen aus nichts hervor und steuern auf nichts zu – und wir retten uns nicht“, bemerkt Lucas Gregorowicz’ Francisco lakonisch.

So endet dieser Abend, zwischen Komödie und Tragödie lavierend, mit der schwebenden Chromatik aus dem Finale von Wagners „Tristan und Isolde“: „Unbewusst, höchste Lust“, verhallt es im roten Scheinwerferlicht, ohne dass existenzielle Verzweiflung spürbar geworden wäre. Wuttkes Erzählmittel aus Musik-, Sprechtheater und Filmbildern vermögen nicht über das Fehlen sinnlicher Ausdrucksmittel hinwegzutäuschen, die das Beunruhigende von Buñuels Gesellschaftskritik hätten vermitteln können. Im allzu grellen Schein medialer Technik bleiben die Figuren bloß Text zelebrierende Schatten ohne Entwicklung oder Spiellust, was nur phasenweise durch den Schönklang der Musik und ihrer Interpreten vergessen gemacht wird. Die Wahrhaftigkeit, die Wuttke als Schauspieler gerade in der körperlichen Sinnlichkeit seiner Gedankenvermittlung gelingt, erreicht er als Regisseur nicht.